Die im Sonnengewand
Kreta 1700 v. u. Z. Pasiphae entbrannte in leidenschaftlicher Liebe zu einem imposanten Stier, den ihr Gatte Minos dem Meeresgott Poseidon entgegen einer gemeinsamen Abmachung als Opfer vorenthalten hatte. Poseidon, tief entrüstet, sorgte daraufhin dafür, dass Pasiphae, die Tochter des griechischen Sonnengottes Helios und der Okeanide Perse, in eine Kuhattrappe stieg, an der der kräftige Bulle Gefallen fand.
Aus dieser Affäre ging Minotaurus (ein Mann mit Stierkopf) hervor, der Zeit seines Lebens auf der Insel in einem Labyrinth gefangen war, bis er von dem athenischen Theseus aufgespürt und getötet wurde.
Minos, Herrscher über Kreta, war wie der Sohn seiner Frau ebenfalls Nachkomme eines Stiers, wenngleich sich sein himmlischer Vater Zeus auch nur vorübergehend in einen solchen verwandelt hatte, um seine Mutter, die schöne Europa, von der phönizischen Küste (Libanon/Syrien) auf seinem Rücken nach Kreta zu entführen und sie dort zu schwängern. So die kurze Zusammenfassung griechischer Mythen zum Stierkult auf Kreta, der eng mit dem der phönizischen Küstenstädte und anderer Regionen verbunden war.
Jeder Mythos enthält bei allem Wirrwarr doch auch einige Wahrheiten. Tatsächlich wurde Kreta von phönizischen Seeleuten angefahren und sowohl dort als auch in den phönizischen Handelszentren an der libanesisch-syrischen Küste gab es einen ausgeprägten Kuh-/Stierkult. So ist es gut möglich, dass die Steven der Schiffe der Phönizier mit einem Stierkopf geschmückt waren, einem Symbol des Baal, des Herrn, ihres höchsten Gottes (der auch "Ehemann" bedeuten kann).
Der Stier des Zeus-Europa-Mythos könnte seinen Ursprung durchaus in solch einer Art Verzierung haben. Demnach wäre Europa dann nicht auf einem Stierrücken, sondern auf einem Schiff (=Stierrücken) nach Kreta gelangt (vgl. sum. MA2-ENGIR, Schiffrücken=Steven).
Nun liegt die phönizische Küste von Kreta aus im Osten, also in Richtung Sonnenaufgang und Kreta von Phönizien aus in westlicher Richtung. Sobald die Schiffe sich auf die Reise zu den Minoern machten, mussten sie also gen Sonnenuntergang in See stechen. Der lichtgestaltige Zeus (ursprünglich DIE Sonne) in der Umschreibung für ein Handelsschiff wird reichlich Handelsware, jedoch keine Frau an Bord gehabt haben. Eine „Europa“ können wir wohl eher im Hafen von Sitia oder Iraklion vermuten, in den Zeus in der Abenddämmerung von Karpathos oder Santorin kommend eingelaufen sein wird. Er dürfte glücklich gewesen sein, dass ihn Europa, der Sonnenlauf gen Westen, sicher ans Ziel und in die Arme einer Geliebten geleitet hatte, die ihm schließlich den legendären König Minos schenkte. Den?
Die Forschung hat noch nicht klären können, ob es einen Herrscher oder eine Herrscherin über das minoische Kreta gab. Hingegen wird „Europa“ sehr wahrscheinlich im Semitischen, wozu auch die Sprache der Phönizier gehörte, auf den Sonnenuntergang zurückzuführen sein (vgl. akk. erebum, eintreten, d. h. in die Unterwelt und altgr. Erebos, die personifizierte Finsternis).
Europa, dem Sonnenuntergang, steht der Sonnenaufgang in der kuhgestaltigen, sagenumwobenen Pasiphae gegenüber, die ein Kälbchen (Minotaurus), d. h. die Sonne, in den Morgenstunden zur Welt bringt, ein Ereignis, das es jeden Tag in einem Frühgebet zu preisen galt und das in der Offenbarung des Johannes 12,1 und 12,2 anschaulich beschrieben wird: „Dann erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von 12 Sternen auf ihrem Haupt (Anm. Kalendermonate). Sie war schwanger und schrie vor Schmerz in ihren Geburtswehen.“